Schönhausen Studie
2021

Es handelt sich um eine ganz bestimmte Reiseverbindung, die von mir besonders oft im Zeitraum zwischen August 2019 und November 2021 in Anspruch genommen wurde, annehmlich zu Beobachtungszwecken des genauen Ortes, an dem man ankam und aus dem Zug aussteigen konnte.
Die Details dieser Reiseverbindung zeichnen sich durch eine formale Strenge aus. Fast abstrakt ist die Entfernung zwischen meinem Studio an der Schönhauser Allee (Berlin) und meiner Studie in Schönhausen (Elbe): 100 km schnurgerade Richtung Westen. Es ist von Berlin aus der kürzeste Weg zur Elbe. Die Verbindungen an den Umsteigebahnhöfen Jungfernheide und Rathenow fahren jeweils zur vollen Stunde ab. Auch auf dem Rückweg kommen sie zur vollen Stunde wieder dort an.
In Schönhausen wird man von einem großzügigen Bahnhofsgebäude empfangen. Das dreistöckige Bauwerk erhebt sich recht eindrücklich über das flache Elbevorland. Es ist kein sonderlich herzlicher Empfang, denn der Bau ist vollständig mit Stahlsicherungselementen verbarrikadiert. Immerhin gestattet die Perforierung in den erdbraunen, betongrauen und grasgrünen Stahlplatten einen kleinen Einblick in die Vergangenheit, die im verschatteten Gebäudeinneren eingeschlossen ist. Etwas Licht kommt hinein, und ein klammer Luftzug weht nach draußen. Bei direkter Sonne und nach Einbruch der Dunkelheit, wenn der Bahnsteig von acht großen Laternen in ein ebenes Licht getaucht ist, wird die am Fenster liegende Innenschicht des Gebäudes von einer Kontrastmatrix aus unzähligen Lichtpunkten überzogen, was auch zur Intensivierung der Schatten führt. Da die stählernen Schablonen, die diesen Effekt auslösen, fest am Gebäude verschraubt sind, erscheint jede Nacht exakt die gleiche Zeichnung (und nur die tägliche Zeitdauer variiert über das Jahr hinweg). Die Nacht erstreckt sich hierbei stets über zwei Tage – was mir in diesem Kontext aufgefallen ist (könnte man folglich mehr Nächte als Tage zählen?).
Der Ort befindet sich im Militärgebiet. Die Bänder bzw. Perlenketten aus Bundeswehrfahrzeugen ziehen sich über die nahegelegene Bundesstraße, die leise im Hintergrund rauscht. Neue Gerätschaften kommen auch direkt am Bahnhof vorbei gerollt. Solch einen unheimlichen Güterzug habe ich einmal mit dem Handy gefilmt. Die verregnete zeitlupenartige Aufnahme sieht aus als würde sie rückwärts laufen, weil die Fahrzeuge verkehrt herum aufgeladen wurden. Dieser unendlich langsamen Prozession von Militärfahrzeugen, aus dem Nichts erschienen, plötzlich zum Greifen nah zu sein, machte so schnell kein Begreifen möglich. Überhaupt kam mir der gesamte Ort so unwirklich vor, dass ich zu verschiedenen Zeitpunkten aus dem vorbeifahrenden ICE heraus nachgeschaut hatte, ob es ihn wirklich gab. Und tatsächlich wurde das Bahnhofsgebäude etwa eine Sekunde lang im ICE-Fenster sichtbar.